Im internationalen Management drohen Vertrauensfallen: Aufgrund kultureller Unterschiede bleibt man misstrauisch, Vertrauen entwickelt sich viel zu langsam oder man verliert es gar – obwohl es eigentlich keinen Grund gibt, nicht zu vertrauen.
Doch wie man solche Fallen vermeiden und die Vertrauensentwicklung fördern kann, lässt sich lernen. Dieses Buch ...
„Herr Meister (leitender Angestellter, französische Geschäftsbank) berichtet über einen französischen Kollegen, mit dem ein wichtiger Kundentermin anstand: „Wir hatten eine gemeinsame Vorgehensweise für das Meeting vereinbart. Und in diesem Meeting hält diese Person sich nicht daran! Zum eigenen Vorteil! Und zu meinem Nachteil. Und diese Person, mit der werde ich nie wieder ...“
Im Rahmen unserer Forschung zur Vertrauensentwicklung im internationalen Management haben wir eine Vielzahl an Erfahrungsberichten von Führungskräften analysiert. Unsere Praxisbeispiel-Sammlung erweitern wir kontinuierlich durch weitere Forschung sowie durch Zuschriften unserer Leser.
Deutschland-Indien
Herr Kramer soll in seiner Firma eine neue Methode zur Qualitätskontrolle einführen. Dafür sollen einige Mitarbeiter ein spezielles Training erhalten. Im Zuge der Einführung dieser Qualitätskontrolle macht er folgende Erfahrung mit dem indischen Werksleiter:
„Da Herr Ganesh, der indische Werksleiter, für die Produktion verantwortlich ist und er die Mitarbeiter zudem am besten kennt, beauftragte ich ihn, innerhalb einer Woche zu entscheiden, wer an dem Training teilnehmen soll. In der folgenden Zeit rief er mich mindestens dreimal täglich an, um mich zu fragen, ob dieser oder jener Mitarbeiter geeignet sei. Ich versuchte, ihm jedes Mal klarzumachen, dass es seine Aufgabe sei, diese Entscheidung zu treffen, und er mich nicht wegen jedem einzelnen Mitarbeiter um Rat fragen solle. Trotzdem rief Herr Ganesh immer wieder an. Ich war zunehmend genervt."
Quelle: Kulturstandardforschung / A. Thomas
Herr Kramers Fall ist ein Beispiel für die 'Chef-hat-Vortritt!'-Vertrauensfalle: (vgl. Überblick wichtiger Vertrauensfallen) Herr Kramer ist von seinem indischen Mitarbeiter enttäuscht, denn dieser hat offenbar seine Anweisung nicht umgesetzt bzw. er ist offenbar nicht in der Lage, die Anweisung selbständig umzusetzen. Für Herrn Kramer steht also sein Vertrauen in den Mitarbeiter in Bezug auf zwei 'Vertrauensfaktoren' infrage: Anweisungen umsetzen und Selbständig arbeiten.
Aus der Perspektive des indischen Mitarbeiters sieht die Sache jedoch ganz anders aus. Was Herrn Kramer hier in die 'Chef-hat-Vortritt!'-Vertrauensfalle führt, ist ein Kulturunterschied im Hierarchieverständnis. Gemäß seinem partizipativen Führungsstil erwartet Herr Kramer, dass sein Mitarbeiter die ihm übertragene Aufgabe selbständig erledigt - dass er also entscheidet, welche Mitarbeiter am besten an der Schulung teilnehmen sollen.
Doch Herr Ganesh geht gemäß der in Indien stärkeren Hierarchieorientierung ganz selbstverständlich davon aus, dass sein Chef die Entscheidung, ob ein bestimmter Mitarbeiter an der Schulung teilnimmt, selbst treffen wird. Das wird von einem Chef in Indien erwartet. Herr Ganesh bereitet daher die Entscheidung vor, indem er potenzielle Kandidaten für das Training identifiziert und dem Chef wohlüberlegte Vorschläge macht, wer geeignet sein könnte. Für ihn ist jedoch klar, dass die endgültige Bestimmung der Kandidaten nicht in seine Entscheidungskompetenz fällt. Er tut also, was aus seiner Sicht von ihm verlangt wird. Den Vorwurf, er habe eine Anweisung von Herrn Kremer nicht ausgeführt bzw. nicht selbständig gearbeitet, würde er klar zurückweisen. Für Herrn Kremer leidet daher das Vertrauen in seinen Mitarbeiter, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gibt.
Eine ausführlichere Analyse des Beispiels finden Sie in unserer Publikation 'Vertrauensfallen im internationalen Management', Abschnitt 8.2.
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